Gespannt bin ich auf die Weihnachtstage in Bolivien. Mit dem Flieger geht es nach Santa Cruz und von dort aus weiter nach Cabezas. Dort leben die Patenkinder meiner Eltern in einem Waisenhaus. Am Flughafen werde ich bereits erwartet – von Sulema, der großen Schwester der Patenkinder meiner Eltern. Der Padre selbst, bei dem die Kinder leben, hatte keine Zeit mich abholen zukommen – von Berufs wegen herrscht an Weihnachten ja für gewöhnlich Hochsaison bei den christlichen Geistlichen auf der ganzen Welt.

Sulema ist mittlerweile 20 und macht Ende dieses Jahres ihren Schulabschluss. Eigentlich sind die Jugendlichen hier in Bolivien früher dran (mit 17 oder 18 haben sie ihr „Abi“ in der Tasche), aber ich gehe davon aus, dass Sulema aufgrund ihrer fatalen Familiengeschichte später dran ist: Marcela, eine Solzialarbeiterin von „Contexto“, hat Sulema und ihre beiden kleineren Geschwister Isabela und Miguel vor ihrem Stiefvater gerettet. Die Mutter der drei ist gestorben und die Kinder, damals 10, 5 und 3 Jahre alt, sind beim Stiefvater geblieben. Dieser hatte nichts Besseres im Sinn, als seine 10-jährige Stieftochter zur neuen „Ehefrau“ zu machen und das kleine Mädchen sexuell zu missbrauchen. Für seine beiden anderen Stiefkinder hatte er hingegen gar nichts übrig – auch kein Essen, weswegen Marcela die drei völlig unterernährt aus Bolsa Negra rettete und nach La Paz holte. Hier verbrachte Miguel erstmal einen ganzen Monat auf der Intensivstation im Krankenhaus. Sein ganzer Körper war von der Unterernährung so ausgezehrt, dass es völlig unklar war, ob und wie er überleben würde.

Angekommen in Cabezas (nach 2,5 Stunden Fahrt durch den Dschungel von Santa Cruz aus) freue ich mich zu sehen, dass Miguel dank der Hilfe von „Contexto“, dem US-amerikanischen Padre, bei dem die drei seit etwa 4 Jahren leben, und dem Patengeld von meinen Eltern und Großeltern sich wirklich gut entwickelt hat: ein richtig hübscher 13-jähriger Lockenkopf mit lauter Flausen im Kopf. Nur für seine Geschichte schämt er sich zutiefst, wie der Padre mir berichtet. Er meidet das Thema „Herkunft“ komplett und spricht niemals über seine Mutter oder die vielen weiteren Halbgeschwister, die noch immer in Bolsa Negra leben. Seine Schwestern sind da schon anders und gehen offener mit ihrem Schicksal um. Aber in einem sind sich die drei absolut einig: nie wieder zurück nach Bolsa Negra zu wollen.

Den „Heiligen Abend“ verbrachte ich gemeinsam mit den Waisenkindern beim „Maní“ (deutsch: Erdnüsse) schälen. Am nächsten Tag sollte es nämlich eine Erdnusssuppe für alle über die Feiertage dagebliebenen Kinder und bedürftigen Familien aus dem Dorf geben. Der Padre tauchte gegen 23 Uhr auf, um 24 Uhr wurde sich „Feliz Navidad“ gewünscht und Böller gezündet (ja, in echt!). Trotz des Silvesterlärms fiel ich um fünf nach 12 in einen Tiefschlaf sondergleichen – erst geweckt durch die Glocken zur Messe am nächsten Morgen um 09:00.

Ich war einfach völlig fertig – das Klima, die Reise, die tausend Fragen der Kinder an mich – aber vor allem deren Lebensumstände, die mich ganz schön geschockt haben. Unter „Waisenhaus“ stellt man sich echt was anderes vor. Ich habe eine Art Krankenhaus, klinisch sauber und mit strikten Regeln und Tagesablauf im Kopf. Nun, von dieser Vorstellung musste ich mich erst mal verabschieden. Zudem sagte mir der Padre, dass es sich ja eigentlich gar nicht um ein Waisenhaus im klassischen Sinne handele. Es sei so, dass sein Vikariat in Texas eine Schule in Cabezas betreibe. Er selbst lebe gleich neben der Schule und die Kinder, die einfach niemanden haben wo sie hinkönnen, bleiben dann halt einfach da. Und genauso sieht es auch aus: ein recht verwildertes Grundstück mit drei zusammengeschusterten Bauten, die in Europa eher als Hütten durchgehen würden. In einem lebt der Padre, in dem zweiten etwa 35 Kinder mit einer Betreuerin und deren Sohn (verteilt auf 3 Räume mit Hochbetten) und im dritten Haus schwangere Mädchen bzw. junge Mütter mit ihren Babys, die keine Väter zu den Kindern haben und deshalb von ihren Familien rausgeschmissen (und vom Padre aufgenommen) wurden.

Ich denke, den Kindern geht es gut dort und alle drei haben mir auch glaubwürdig versichert, dass sie unbedingt dort bleiben wollen. Aber trotzdem war´s irgendwie ein Schock. Keine Privatsphäre, keine Klos mit Abwasser, nicht mal Klopapier, kein Boden in den „Häusern“, wirklich viel Dreck, kein Internet! Nach 24 Stunden war ich wirklich geschafft und trotz der tollen, lieben, warmherzigen Kinder und des weisen Padres war ich glücklich „zurück in der Zivilisation“ sein zu dürfen. Je mehr Armut ich in Bolivien miterlebt habe, desto dankbarer bin ich für das, was wir in Deutschland alles haben. Desto mehr weiß ich diese unendlichen Möglichkeiten zu schätzen, die mir mein „Reichtum“ (ich bin finanziell gesehen wirklich unendlich reich im Vergleich) eröffnet.

Das hat den Wunsch in mir noch verstärkt, teilen zu wollen – denn dies ist der andere entscheidende Effekt: Ohne für mich ersichtlichen Grund bin ich auf jener Seite der Erde geboren worden und andere Menschen eben in anderen (weitaus ärmeren) Verhältnissen. Logisch und sinnvoll ist das für mich nicht. Die logische Folge ist für mich persönlich jedoch, dass ich einfach ein bisschen von dem, was ich habe, abgeben möchte. Nicht aus schlechtem Gewissen oder weil ich denke, damit die Welt entscheidend zu verbessern – auch wenn es die Welt sicherlich für einige wenige entscheidend verbessern kann. Und seien wir mal ehrlich: auch wenn ich ein wenig von dem weggebe, was ich habe, habe ich immer noch so unendlich viel mehr als jene Menschen, denen ich bisschen was abgebe. Nicht im Mindesten kann davon gesprochen werden, dass Unterschiede nivelliert oder auch nur annähernd angeglichen werden können. Auch gehe ich dabei ganz sicherlich nicht so weit zu sagen, dass ich mich moralisch zu irgendwas verpflichtet fühle. Teilen zu wollen, sollte meines Erachtens eine absolut individuelle Entscheidung sein (auch wenn mir Rawls, Singer, Pogge und Co. in diesem Punkt ganz sicherlich ganz vehement widersprechen würden).

Das zuvor beschriebene ist für mich so ziemlich das Prinzip der Patenschaften: man sucht sich ein Kind bzw. eine Familie aus, die absolut und objektiv gesehen gut eine monatliche Finanzspritze dringend benötigt.  Sei es um Schulsachen oder Kleidung, Medikamente und Arztkosten oder ganz simpel Essen zu kaufen. Natürlich kann es auch weiter gehen: Zum Beispiel wie bei dem Patenkind Laiza. Sie habe ich in meinen letzten Tagen in La Paz besucht. Ihre Patin lebt im Kanton St. Gallen. Zunächst finanzierte sie ihr eine lebensrettende Operation. Mittlerweile hat die Familie (leider ohne den Familienvater, der an den Folgen seiner Arbeit in der Mine an Staublunge verstorben ist) den Absprung aus Bolsa Negra geschafft und baut in El Alto bei La Paz ein kleines Häuschen: auch mithilfe der Patin, aber vor allem mit eigenem Schweiß und Herzblut.