Sehr früh starteten wir bei „Contexto“ in La Paz, um ins abgelegene Bolsa Negra zu fahren und dort das „Centro Infantil“ sowie einige Patenkinder zu besuchen. Mein Onkel hatte mir bereits gesagt, dass dort „große Armut“ herrsche. Doch was fängt man an mit einem abstrakten Wort wie Armut an, wenn man wirkliche Armut nie selbst erlebt hat?
Eins vorab: Bolsa Negra ist so ziemlich der trostloseste „Ort“, den ich überhaupt je gesehen habe. Wobei es diese Bezeichnung „Ort“ nicht wirklich verdient hat. Nahezu abgeschnitten vom Rest der Welt – die „Straße“ dorthin, ein gefährliche Buckelpiste, ist während der Regenzeit kaum zu passieren, der Handyempfang ist, wenn überhaupt vorhanden, sehr schlecht – liegt es etwa zwei Stunden entfernt von La Paz in den Bergen. Die einzige Einnahmequelle ist eine Mine, in der unter grausamsten Arbeitsbedingungen Wolfram, Bronze und Zeolit abgebaut werden. Und es ist aufgrund der Höhe von über 4.000 Metern ganzjährig kalt und es regnet sehr viel. Ehrlich gesagt, kann ich noch nicht mal sagen, dass man hier durch schöne Naturanblicke entschädigt wird – irgendwie fand ich schon die Fahrt nach Bolsa Negra nur trist. Klar, es hat geregnet, aber generell ist die Landschaft eher karg und die Mine legt rotes Gestein in den dunkelgrünen Hügeln frei – was in mir erschreckende Assoziationen mit einer blutigen Wunde hervorgerufen hat.
Die Menschen in Bolsa Negra leben nicht in Bolsa Negra, weil sie das möchten – sie haben einfach keine andere Wahl! Gerade für alleinerziehende Frauen ist die Arbeit für die Mine oftmals die einzige Möglichkeit, ihr Überleben und das ihrer Kinder zu sichern. So auch für Flora: sie und ihre beiden Kinder Hernan und Camila (5 und 7 Jahre alt), leben in einem Zimmer einer einstöckigen Baracke, die sie mit vier weiteren Familien teilen, zur Verfügung gestellt von der Bergbau-Kooperative. Es ist zugig, kalt und es riecht schimmelig, der Geruch beißt im Rachen. Hernan hustet ununterbrochen. Um bei ihren kleinen Kindern sein zu können, nimmt sie ihre Arbeit mit nach Hause: die Überbleibsel der bereits von den Männern mit Maschinen durchgesiebten Erde durchsucht sie mit den bloßen Händen nach winzigen Fitzelchen der begehrten Mineralien und liefert sie dann bei der Kooperative ab. Bezahlt wird sie nach Menge, tun ihre von Arthrose geschwollenen Hände zu sehr weh, um zu arbeiten, gibt es auch kein Geld. Auch nicht vom Vater der Kinder, der sie mit nach Bolsa Negra genommen hatte, um in der Mine zu arbeiten. Mittlerweile hat dieser sich jedoch sang- und klanglos abgesetzt. Nach seinem Verschwinden musste sie zunächst bei anderen Arbeitern unterkommen, da die Kooperative die Mutter und Kinder umgehend aus dem Haus geschmissen hat. Als Gegenleistung putzte Flora für die Bekannten, bei denen sie wohnte – jedoch sah sie sich mehr und mehr mit sexuellen Übergriffen konfrontiert, vor denen sie sich kaum schützen konnte. Ihre größte Angst ist eine weitere Schwangerschaft und damit noch ein Kind, das sie nicht ausreichend ernähren kann, erzählt sie mir unter Tränen. Notgedrungen fing auch sie an für die Kooperative in der Mine zu arbeiten. Jedoch kann sie mittlerweile aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr unter Tage arbeiten. Selbst Vollwaisin, hat sie auch keine Möglichkeit außerhalb von Bolsa Negra Unterschlupf zu finden. Mit den Worten „Nur für meine Kinder lebe ich weiter und nur Gott weiß wie ich das schaffen soll.“, beendet sie ihre Ausführungen. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie glücklich es mich gemacht hat, ihr das Patengeld für ihre Kinder im Namen ihrer Paten zu geben. Und noch glücklicher, als ich hörte, dass Marcela bereits intensiv nach einer Beschäftigung in den Einrichtungen von „Contexto“ für sie sucht – weit weg von Bolsa Negra.
„Weit weg“ von Bolsa Negra ist auch das große Ziel von Deisy. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, als sie mir von ihrem großen Traum erzählt, in La Paz Krankenwesen zu studieren. Als erstes fallen mir ihre großen, runden Augen auf. Als zweites fasziniert mich, wie diese Augen strahlen, wenn die 16-jährige von ihrer Patin Silvia wie über eine gute Freundin spricht. Silvia unterstützt Deisy bereits seit vielen Jahren – und damit die ganze Familie. Denn der Vater ist starker Alkoholiker und wenn er mal wieder zu besoffen ist, um in der Mine zu arbeiten, kauft Deisy heimlich Essen für ihre Mutter, ihre zwei Brüder und sich. Wenn das Geld des Vaters nicht mal mehr für billigen Fusel reicht, reißt er sich wieder zusammen und geht arbeiten – ein klassischer Quartalssäufer, der bislang jede Hilfe abgelehnt hat, die „Contexto“ ihm angeboten hat. Deisy zählt schon jetzt die Tage bis zu ihrem Schulabschluss in anderthalb Jahren. Aktuell versucht sie gemeinsam mit Marcela etwas von dem Patengeld zurückzulegen, für ihre Zukunft in La Paz. Dieser fiebert sie so verbissen entgegen, es ist unglaublich und beeindruckend solch eine Entschlossenheit zu spüren.
Maribel hat seit kurzem Paten in der Schweiz. Ihre Mutter Martha arbeitet bereits für „Contexto“ in dem „Centro Infantil“ in Bolsa Negra. Dass sie überhaupt noch arbeiten kann, hat mich überrascht, denn sie ist krank. Die 21-jährige ist so abgemagert, dass ich bei der Umarmung zur Begrüßung jede einzelne Rippe spüre. Die Hälfte ihrer Zähne fehlt. Trotzdem lächelt sie die ganze Zeit, selbst als sie mir erzählt, dass niemand weiß, welche Erkrankung sie hat. Sie kann sich die nötigen Untersuchungen nicht leisten. Gerade versucht sie auf eine Kernspintomographie zu sparen – doch selbst wenn klar ist was ihr fehlt – ohne Krankenversicherung stehen die Chancen auf Heilung schlecht. Martha sagt, dass sie einfach nur weg will aus Bolsa Negra, um ihrer Tochter anderswo ein besseres Leben zu ermöglichen. Wer der Vater der Kleinen ist, möchte sie nicht sagen, aber ich habe eine böse Ahnung. Während unseres Gesprächs spielt die Vierjährige mit den Bauklötzen, die ich ihr im Namen ihrer Paten geschenkt habe und strahlt mich immer wieder glücklich an – und während der gesamten Rückfahrt, nein eigentlich bis jetzt, habe ich dieses lachende Kindergesicht vor Augen und die furchtbare Frage, was mit ihr geschieht, wenn es für ihre Mama wirklich keine Heilung gibt. Das macht mich einerseits unendlich traurig – und andererseits glücklich, weil ich weiß, dass es Menschen wie Teresa, Marcela, und ihre Pateneltern gibt, die sich genau darum sorgen werden.
Hier geht es zum dritten und letzten Teil meines Berichtes: Mein Weihnachten im Dschungle 2014