Um den Verein  „Hilfe für Menschen in Bolivien“, den mein Onkel und meine Tante, Dieter und Marianne Würges, bereits Anfang der 90er Jahre gegründet haben, zu unterstützen, war ich zum Jahreswechsel 2013/14 in Bolivien. Wie diese Unterstützung konkret aussehen sollte, hatten wir zwar vorher ausführlich besprochen – so richtig klar war mir das aber auch selbst alles nicht. Zwar hatte ich eine Vorstellung davon, wie sich die Hilfe in Bolivien so in etwa gestaltet – aber ihr wisst ja wahrscheinlich selbst wie das ist mit Vorstellungen von Dingen, die auf der anderen Seite der Welt stattfinden und die man selbst nie gesehen, gehört, ja erlebt hat. Ich weiß, dass auch ich euch nun nur eine vage Vorstellung geben kann, von den Dingen, die in Bolivien geschehen – aber ich wünsche mir sehr, dass ihr vielleicht ein wenig mehr versteht, warum mir die Arbeit so sehr am Herzen liegt. Vielleicht können meine Erfahrungen ein wenig zu euren Erfahrungen werden – und euch bereichern, so wie die vergangenen Tage mich ungemein bereichert haben.

Unser Verein arbeitet mit zwei Partnerorganisationen in Bolivien zusammen. Neben den Redemptoristen, deren Arbeit sich auf das Amazonastiefland fokusiert, auch mit „Contexto“ in La Paz. Mit beiden hatte ich im Vorfeld meiner Reise Kontakt aufgenommen und mein Anliegen geäußert, sie zu besuchen – so wie mein Onkel dies gewöhnlich alle zwei Jahre macht. Aufgrund gesundheitlicher Probleme war es ihm in diesem Jahr jedoch nicht möglich – weshalb er mich allen Ansprechpartnern bereits als seine Stellvertreterin angekündigt hatte. Angekommen in La Paz traf ich mich gleich mit Teresa, der Direktorin von „Contexto“ und am Nachmittag desselben Tages mit Alex, dem Verwalter der Redemptoristen, um mit beiden einen Plan für die folgenden Wochen auszuarbeiten. Mit meinem Onkel hatte ich bereits eine lange Liste von Dingen ausgearbeitet, die ich vor Ort für ihn erledigen sollte.

Unser Verein widmet sich der Unterstützung armer bolivianischer Kinder und deren Familien. Ganz konkret heißt das, dass einerseits Spendengelder gesammelt werden, um sogenannte „Centros Infantiles“ (Ganztagesbetreuung für Säuglinge und Kinder im Alter von sechs Monaten bis fünf Jahren) und „Centros Acogidos“ (für Schulkinder, die Mittagessen und danach Unterstützung bei den Schularbeiten erhalten) zu bauen. Dabei geht es einzig und allein um Bau und Ausstattung sowie Instandhaltung der Einrichtungen. Der Unterhalt obliegt den Partnerorganisationen mit finanzieller Unterstützung des jeweiligen „Municipios“ (in etwa vergleichbar einem Landkreis oder Gemeindebezirk), in dem sich die Einrichtung befindet. In Bolivien gibt es 386 Municipios, die für alle sozialen Belange wie Gesundheitsversorgung und Bildung ihrer Bürger zuständig sind – dass dies jedoch nicht immer funktioniert, ist leider traurige Realität – insbesondere dann, wenn das Municipio nicht von der MAS, der Regierungspartei, dessen Vorsitzender Boliviens Präsident Evo Morales ist, sondern einer Oppositionspartei regiert wird. Dass Parteien Machtspielchen spielen, kennt man ja aus den besten Demokratien – dass dies, wie beispielsweise im Municipio Ovejuyo (in dem „Contexto“ ein Centro Infantil betreibt), zu Lasten der Kleinsten und Bedürftigsten geht, ist einfach nur beschämend. Noch ist offen, ob die betroffene Kindertagesstätte nach den Weihnachtsferien wieder öffnen kann.

Wenn ich Kindertagesstätte schreibe, meine ich nicht eine deutsche/schweizerische KiTa. Das nur vorab, denn ich glaube, ich kann so ungefähr nachvollziehen, was ihr denkt, wenn ihr Kindertagesstätte lest. Denn irgendwie ging es mir auch so: Kindertagesstätte, schön, nett, hm… Allerdings ist Bolivien absolut nicht mit deutschen oder Schweizer Verhältnissen vergleichbar. Betreuung außerhalb der Familie gibt es in Bolivien nicht. Oder zumindest nicht ausreichend oder irgendwie auch nur annähernd erschwinglich für den armen Teil der Bevölkerung. Der arme Teil der Bevölkerung, das bedeuted fast ausschließlich alleinerziehende Mütter! Die Scheidungsquoten in Bolivien liegen aktuell bei unglaublichen 72% – diese Zahlen berücksichtigen noch nicht die unverheiratet schwanger gewordenen (Teenie-)Mütter und jene Ehen, in denen der Mann einfach geht, ohne je offiziell die Scheidung einzureichen. Da es keine staatliche Unterstützung für Alleinerziehende, geschweige denn Sozialhilfe für überhaupt irgendjemanden gibt, ist die Stiuation ziemlich prekär. Was mache ich, angenommen ich habe vier Kinder deren Erzeuger mich verlässt? Oder aber ich muss/willl weg, da ich seine Misshandlungen nicht mehr ertrage und meine Kinder schützen muss, aber ich habe niemanden, an den ich mich wenden kann.

Genau hier setzt die Arbeit von „Contexto“ an. Teresa, die Leiterin, ist Sozialarbeiterin und hat „Contexto“ 1991 im Alleingang gegründet. Auch sie wurde mittlerweile von ihrem Mann verlassen – jedoch ist Samuel, ihr Ex, wirklich ein Herz von einem Mann. Er konnte einfach nicht mehr mit ansehen, wie sie ihre Gesundheit ruiniert, um anderen zu helfen – sie hat starke Diabetes und vergisst zudem andauernd ihre Tabletten. Das hatte mein Onkel mir bereits im Vorfeld erzählt und ich dachte nur, wie pathetisch hört sich das denn an? Aber im Ernst – sie ist mindestens 60. extrem engagiert und arbeitet sieben Tage die Woche beinahe rund um die Uhr. Neben „Contexto“ sitzt sie auch noch der Menschenrechtskonvention Boliviens vor, hält andauernd Vorträge, veröffentlicht Schriftsätze, wird im Fernsehen interviewt und trifft sich mit Politikern (Präsident Evo Morales ist ihr persönlicher Duz-Freund) und Verwaltungsbeamten aller Hierachiestufen (alles so geschehen innerhalb der Zeit, die ich dort verbrachte!). Im Laufe der Jahre ist „Contexto“ stark gewachsen. Mittlerweile betreiben sie Kinderzentren in den Armenvierteln von La Paz. El Alto, Totorampampa, Bolsa Negra und Potosí. Dort werden die Kleinen ganz und gar nicht nur „verwahrt“, in vielen Fällen muss mit der Erziehung bei Null angefangen werden: z. B. mit dem Erlernen des Spanischen, da zu Hause nur die Indigenensprachen Quechua und Aymara gesprochen werden. Darüber hinaus sind viele der Kinder mangelernährt und krank. Hier ist besonders gesunde, ausgewogene und vor allem ausreichende Ernährung und Gesundheitserziehung angesagt – ihr könnt euch überhaupt nicht vorstellen, wie viele der Kinder, die mich in diesen Tagen umarmt haben, nur verfaulte Stummel im Mund hatten. Auch Hygiene will gelernt sein, auch wenn uns das als selbstverständlich gilt und mir so überhaupt nie bewusst war. Darüber hinaus lernen die Kinder natürlich auch noch, wie man die Uhr liest, was ein Kalender ist oder wie die bolivianische Nationalhymne geht – was mir jedoch im Vergleich zu den grundlegenden anderen Dingen fast schon wie Zierrat vorkommt.

Des Weiteren betreiben die 35 Mitarbeiter/innen von „Contexto“ eine Auffangstation für misshandelte Frauen und Mädchen und vermittelen ihnen annehmbare, menschenwürdige Jobs. So sind viele der Erzieherinnen, Köchinnen und Putzfrauen in denCentros Infantiles solche bedürftigen Frauen. „Contexto“ unterstützt sie u. a. auch bei der Herstellung von Kunsthandwerk und dem Handel mit ihren Handarbeitswaren, indem sie Mikrokredite vergeben. Zudem sorgen sie auch für die Bildung der Frauen, denn Analphabetismus ist nach wie vor weit verbreitet.

Neben den Centros Infantiles, sind Gesundheitsstationen und die Vermittlung von Patenschaften ein weiterer wichtiger Teil der Arbeit unseres Vereins. Meinem Onkel ist es im Laufe der vergangenen Jahre gelungen, Paten für 29 Kinder zu finden, die die Hilfe aus dem Ausland ganz besonders stark benötigen. natürlich kann man nicht sagen, „dieses Kind ist bedürftiger als jenes“ oder „dieses hat es mehr verdient“. Dennoch bin ich der Ansicht, dass diese Kinder, einfach nur weil sie auf der anderen Seite der Erde geboren wurden, es nicht verdient haben, hungern zu müssen und dass wir, die wir sozusagen auf der Sonnenseite stehen, Verantwortung übernehmen müssen.

Was mich wirlich beeindruckt hat, ist, dass die „Contexto“-Sozialarbeiterin Marcela, die die Patenschaften unseres Vereins betreut, jedes einzelne Kind und dessen Schicksal in- und auswendig kennt und konstant Kontakt hält. Einige der Kinder leben auch in Bolsa Negra, einem furchtbar trostlosen Bergbaudorf im Hochland von La Paz. Mehr über meine Erfahrungen dort könnt ihr hier lesen.