Un dia el en campo de La Paz

(Ein Tag im Anden-Hochland bei La Paz)

Heute wollen wir in die Bolsa Negra fahren, etwa vier Fahrstunden von La Paz entfernt auf der anderen Seite des Illimani, dem Hausberg von La Paz. Unser Ziel in dem kleinen Minenarbeiterdorf ist der Kindergarten Juana Maria, der durch seine aussergewöhnliche Lage direkt unterhalb der Minen etwas sehr Besonderes ist. Der Kindergarten – von „Hilfe für Menschen in Bolivien, Winterthur“ erbaut – wird vor Ort von Contexto betreut. Zwar hat der nächtliche Regen die Wege auf dem Land schwer passierbar gemacht, trotzdem wollen wir den Weg heute auf uns nehmen. Teresa, die Chefin von Contextomeinte, es sei wichtig, den periodischen Versorgungs- und Betreuungsbesuch durchzuführen. Gleichzeitig sollen wir die Bewohner auf dem Land darüber informieren, dass sie am nächsten Morgen in der Frühe abgeholt werden, um sie zur Wiederwahlzeremonie des Präsidenten in Tiahuanaco mitzunehmen. Ob wir es allerdings bis in die Bolsa Negra auf den vom Regen zerstörten Naturstrassen schaffen werden sei ungewiss, aber wir sollten schauen, wie weit wir kommen.

Dick eingepackt, um uns gegen den immer noch andauernden Regen und die Kälte zu schützen, fahren wir also los: Candela, die Praktikantin aus Deutschland, Davide, der Fahrer, Maria, Alicia die Sozialarbeiterinnen und ich. Wir verlassen das Zentrum von La Paz und durchqueren die Zona del Sur in Richtung Land. Jedes Mal, wenn ich durch den Süden der Stadt fahre, erschreckt mich der Standardunterschied zwischen den Armen der Stadt, die mit 10 und mehr Personen in Hütten hausen und den Reichen. Hier am Südhang scheint die Sonne fast immer, und die Reichen, die hier wohnen, bekommen nichts mit von dem kalten Wind, der oben im Alto auf der anderen Seite von La Paz über den Altiplano fegt. Die Häuser in der Zona del Sur erinnern mich an die Häuser in der Schweiz. Nur dass dieser Lebensstandard bei uns als „normal“ gilt. Hier sind es die Reichen, die im Luxus leben, in einem Luxus, den wir in der Schweiz als gewöhnlich empfinden.

Am Ende der Zona del Sur wird die Strasse zu einem steinigen, holprigen Weg, der wegen des Unwetters immer wieder von kleinen Bächlein überschwemmt wird. Hier beginnt eine unglaubliche Landschaft. Das Gebirge strahlt eine wahnsinnige Kraft aus, und die erdigen rot-braunen Farben legen eine Wärme über das Land. Die bolivianischen Anden hier auf einer Höhe von 4000 Metern überm Meer sind ganz und gar nicht mit den schweizerischen Alpen zu vergleichen. Davide fährt zielstrebig über den Weg, überquert die Bäche, die immer wieder über die Strasse führen, und lässt sich auch nicht durch den steilen Abhang verunsichern, der rechts von uns in die Tiefe führt – ohne jegliche Sicherung – so als würde er diese Strecke jeden Tag fahren.

Nach etwa einer Stunde sind wir beinahe beim ersten Dorf angelangt. Beinahe!! Hier, ein ganzes Stück unterhalb des Dorfes, hat ein Fluss die Strasse völlig zerstört. Der Weg macht nicht einmal mehr den Anschein, als wäre er einmal ein Weg gewesen, so hat das Wasser die Steine mitgerissen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, hier ist es sogar mit den Fahrkünsten unseres obercoolen Fahrers vorbei: Wir steigen aus und gehen zu Fuss hoch bis zum Dorf. Ein bisschen Laufen schadet ja nicht, würde man meinen. Aber mach mal einen Spaziergang auf über 4000 Meter Höhe!! Die Luft hier oben ist so dünn, dass ich atme, als wäre ich schon 10 Kilometer gerannt. Zwischen Eseln, Lamas und Schafen steigen wir ins Dorf hinauf. Oben angelangt, ist die gesamte Dorfgemeinschaft gerade dabei, gemeinsam einen Baum zu fällen. Ich schaue mich um und betrachte die kleinen Lehmhütten, in denen die Menschen hier wohnen. Ich fühle mich in eine andere Welt versetzt. Jetzt wird mir auch bewusst, wieso wir einen so weiten Weg auf uns genommen haben, um den Kindergarten zu besuchen und gleichzeitig die Menschen morgen an die Zeremonie in Tiahuanaco einzuladen. Das hat nichts damit zu tun, dass wir einen schönen Ausflug machen, damit ich die Landschaft hier kennen lerne oder damit wir noch einen netten Schwatz mit den Leuten im Dorf halten können, auch wenn dies alles schöne Nebeneffekte sind. Nein, der Grund ist ganz einfach, dass es überhaupt die einzige Möglichkeit ist, mit den Menschen hier oben in Verbindung zu treten. Ja nicht mal ein altes Telefon gibt es hier – geschweige denn ein Handy oder Internet. Wenn wir also mit den Leuten kommunizieren wollen, dann müssen wir sie besuchen, was anderes gibt es gar nicht. Und als ob dies die Kommunikation nicht schon schwierig genug machen würde, höre ich hin, was die Leute gerade besprechen, und stelle fest, dass sie gar kein Spanisch reden. Hier auf dem Land werden noch die Ursprachen der Indianer gesprochen, die Leute verständigen sich in Aymara. Wir gehen also zu den Dorfbewohnern, um mit ihnen über das morgige Ereignis zu sprechen. Zum Glück spricht Maria Aymara und kann sich gut mit ihnen unterhalten und übersetzen.

Wir verabschieden uns und steigen den Berg weiter hinauf bis zu einem einsamen Haus ganz weit oben. Das Haus ist aus roten Ziegelsteinen gebaut und sieht wie die anderen Häuser hier ziemlich arm aus. An Schweizer Verhältnisse ist gar nicht zu denken. Als wir näher kommen, tritt eine Frau mit ihren drei Kindern aus der Tür. Die Frau trägt einen langen mehrschichtigen Rock, so wie ihn alle indigenen Frauen hier tragen, einen sogenannten „Pollera“. Alicia und Maria kennen die Familie, wir begrüssen sie, und sie laden uns ein, herein zu kommen. Wir stehen in einer Art Vorhof, der von einer Steinmauer umgeben ist. Zwei Schafe leben hier und ein paar Hühner. „Mein Papa bringt jeden Monat ein Schaf um, das reicht dann, um die ganze Familie einen Monat lang zu ernähren“, erzählt mir eines der Mädchen. Die Kinder hier sind es gewohnt, dass sie die Tiere, die bei ihnen leben, anschliessend essen, sie kennen es nicht anders. Da kommt kein Mitleid mit den Tieren auf, das Fleisch ist für sie überlebenswichtig. Alicia informiert die Frau über den Anlass am nächsten Tag und lädt sie ein mitzukommen. Sie möchte gerne kommen und freut sich, dass sie eine Mitfahrgelegenheit hat. Hier auf dem Land gibt es nur ganz wenige öffentliche Verkehrsmittel. Ab und zu fährt ein Bus übers Land, der den Menschen die einzige Möglichkeit gibt, in die Stadt zu gelangen. An den Besitz von Autos oder Motorrädern ist in dieser Umgebung gar nicht zu denken. Deshalb sind die Leute darauf angewiesen, dass sie abgeholt werden, um nach Tiahuanaco zu kommen.

Wiederum verabschieden wir uns und machen uns auf den Rückweg. Als wir das Dorf noch einmal durchqueren, sitzen die Menschen aus dem Dorf gemeinsam in einem Kreis am Boden und essen zu Mittag. Den Baum haben sie gefällt, eine ganze Arbeit geleistet. In ihrer Mitte liegen Kartoffeln, Bohnen, Choclo und Poulet auf einem Tuch angerichtet. Als sie uns kommen sehen, winken sie uns gleich heran. Sie laden uns ein mitzuessen. Wir sollen nehmen so viel wir wollen. „Ich habe gar keinen Hunger“ sage ich zu Candela auf Deutsch, so dass uns niemand versteht. „Du musst essen“ meint sie. „Das ist total unanständig, wenn sie dir etwas anbieten und du nichts nimmst. Keinen Hunger, das gibt es hier nicht, das verstehen sie nicht.“ Also nehme ich eine Kartoffel und esse sie wie alle von Hand.

Für unseren Besuch in der Bolsa Negra hat uns die Natur einen dicken Strich durch unsere Pläne gemacht. Eine Weiterfahrt ist unmöglich. Aber das Gesehene lässt mich erahnen, um wieviel karger und unwirtlicher es in der noch 3 Fahrstunden entfernten Bolsa Negra sein muss. Als wir später wieder in unserem Auto sitzen, auf dem Weg zurück nach La Paz, betrachte ich die Landschaft und durchlaufe in meinen Gedanken den heutigen Tag noch einmal. Ich fühle mich, als wenn ich in einer anderen Welt war. In einer kargen Welt, in der die Menschen gemeinsam der Natur alles abringen müssen um überleben zu können und sei es, um gemeinsam mit einem dicken Seil und einer Axt einen Baum zu fällen.

Miriam Bäcker, Frühjahr 2010